Spiegelkabinett
Wer wärest du, wenn du plötzlich alleine in deinem Mikroversum wärst? Wenn du schon seit frühesten Tagen a la “I am Legend” alleine durch eine verlassene Welt streifen würdest? An Nahrung soll es dir nicht mangeln, die unterste Stufe der Bedürfnispyramide sei in vollem Umfang erfüllt, nur die Interaktion mit anderen Menschen bleibe aus. Was würde mit all den Geschichten in deinem Kopf, die du dir zuvor täglich zusammengereimt hast, passieren? Was ist aus dem aufstrebenden (füge Berufung deiner Wahl ein) geworden? Wenn man auf irgendeine Art und Weise eine Identitätskrise induzieren möge, dann ist es wohl an erster Stelle durch Isolation. Das Selbst, und damit das Selbstbild, Selbst-Gebilde, Selbst-Bildende und auch das Selbst-Eingebildete, steht und fällt mit dem Nicht-Selbst, da es sich ohne dessen Spiegel nicht selbst erkennen würde.
Wir kommen gar nicht drum herum, im kontinuierlichen Austausch mit anderen Leidensgenossen die Welt und damit uns selbst kennenzulernen: An allererster Stelle durch die eigene Mutter, ohne deren Kontakt ein Baby wortwörtlich eingeht. Noch bevor sich irgendein Selbstbild formen mag, ist sogar das eigene Leben akut gefährdet, wenn einem nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird: Neugeborene versterben schlichtweg, wenn ihnen die menschliche Zuwendung versagt wird, selbst wenn ansonsten alle physischen Bedürfnisse optimal erfüllt sind. Wie ein ungegossener Steckling verwelkt die junge Blume des Lebens wieder, wenn das überlebenswichtige Wasser der menschlichen Zuwendung fehlt.
Im glücklichen Falle hingabevoller Eltern saugt das Kleinkind die Welt und die Charakterzüge, Verhaltensweisen sowie Werte der Menschen, die sich ihm in seinem Mikroversum offenbaren, geradezu auf. Zu Beginn des Lebens gibt es noch kein konstruiertes Selbst, so wie wir es begreifen, man ist noch ganz der Andere: Handlungen, Launen, Äußerungen der einen umgebenden Menschen fließen mit einer eigenen unkritischen Offenheit in den Geist, die im Verlauf des weiteren Lebens unerreicht bleiben wird. Und mit dieser Fülle an Eindrücken auch solche, die wir uns zu eigen machen – welche die Fäden unseres zusammengewobenen Teppichs an verinnerlichten Selbstbildern spinnen. Wie können wir vergessen, dass sich das ach so unabhängige Individuum zwangsläufig nur durch die Reflektion im Anderen kennt?
Vertraut man seinen eigenen Komplexen und dem westlichen Ethos des Individualismus, scheint es einem so als ob in der Welt “da draußen” überall um einen herum hochgeborene Menschen existieren, die eine völlige Autonomität ihres Selbstbildes genießen. Solche, die Entweichungsgeschwindigkeit erreicht haben, damit der Gravitation der Bedürfnisse Anderer entkommen sind, und eine selbstbestimmte, unabhängige Existenz als Sternchen am Firmament vollkommener Persönlichkeiten fristen. Ich rede von der Art von Menschen, die eines sonnigen Sonntagnachmittags die Strandpromenade entlang laufen ohne auch nur aus dem Augenwinkel auf die Blicke anderer zu achten scheinen. Solche, welche mit Auszeichnungen versehen und von Verehrern angehimmelt werden, die aber für derartige Würdigungen Anderer nur ein müdes Lächeln übrig haben und weiterhin unbeirrt ihre eigenen Bahnen ziehen.
Wir blicken auf zu solchen Personen und sehnen uns nach ihrer Nähe. Sollte uns sogar zuteil werden ihrer Aufmerksamkeit würdig erachtet zu werden, so sonnen wir uns in den neidischen,
begehrenden Blicke derer, die dieses Sonnenbad der Relevanz nicht zuteil wird. Es ist ein perfides Spiel, was den Graben zwischen Verehrern und Verehrten nur weiten kann, während die Selbstbilder aller Beteiligten weiter verblendet werden. Mit jedem Anhänger steigt die Gravitationskraft im Raum-Aufmerksamkeits-Kontinuum, welche zusätzliche Anhänger ganz natürlich näher bringt. Oberflächlich scheint es so, dass die durch Komplexe geplagten Aufblickenden mehr in Abhängigkeit von ihrem Idol geraten als anders herum, indem sie ihr Selbstbild durch Nähe zu idealisiertem Fremdbild aufpolieren wollen. Doch wenn man genau hinsieht, stellt sich die Situation anders dar: Hinter dem Schein zunehmender Unantastbarkeit, welcher wie ein Magnet die unsicheren Seelen anzieht, wird die Selbstauffassung des Verehrten mehr durch die Verehrung verformt und von ihren Schmeicheleien verformt als das der Verehrenden: Der Respekt und die Anhimmelung von mehreren Seiten durchdringen das Selbstbild, sodass ironischerweise jener, der am unabhängigsten von den Meinungen anderer zu sein scheint am meisten von dessen kumulierter Masse verformt wird.
Man kann sich schließlich nicht selbst zu einer respektieren, oder sogar verehrten Persönlichkeit erheben, sondern wird von anderen per Definition die Treppchenstufen der sozialen Hierarchie hochgehievt. So mehr der äußerliche Erfolg zunimmt, so mehr bläht sich das Selbstbild mit dem Ballast der Fremddefinitionen auf. Die überhöhten Loblieder der sich anreichernden umgebenden Masse von Aufblickenden suggerieren immer mehr Tugendhaftigkeit als die Realität hergibt – sie zwingen das Ego auf den von Fremden getischlerten Thron. Jenen verführend glänzenden Thron abzulehnen und alle Ehren von sich zu weisen erfordert außerordentliche Charakterstärke – wahre Größe und Selbstkenntnis.
Welch wahres Talent schon korrumpiert und verdorben wurde durch die falschen Früchte des Lobes und der Anbiederung.
Und so spielt sich in unzählbarer Mannigfaltigkeit dieses erbärmliche Theater überall auf dem Globus ab wo der homo sapiens genügend Muße hat sich von Ränkespielchen bezirzen zu lassen. Alle spielen mit, da keiner in seiner Selbstauffassung im Vakuum existieren kann, doch manche sind anfälliger für die Abarten des Selbstverständnisses, manche umso weniger. Von Anderen in seinem Selbstbild generell “abhängig” zu sein gehört jedoch nicht zu diesen Abarten: Diese gegenseitige Abhängigkeit ist vielmehr die Basis um überhaupt einen funktionierenden Selbstbegriff zu konstruieren. Aus dem Spiegelkabinett der Selbstidentitäten kommt niemand lebendig heraus, doch bei ihrem Besuch lassen sich Manche von den Wölbungen der Reflektoren mehr blenden als Andere.